4. Ludwigsburger Turmgeschichte -
Gemalt wie ein Gebet
Wilhelm hatte den Krieg überlebt. Er war in Gefangenschaft geraten und kam erst 1955 wieder zurück. 10 Jahre zuvor war er als Turmbeobachter eingesetzt, bevor er wieder an die Front musste. Am Tag vor seiner Abfahrt verlobte er sich mit seiner Anna. Anna war als Krankenschwester im Lazarett eingesetzt und hatte ihn über viele Wochen hinweg gepflegt.
Der Aussichtsturm auf dem Salon war Ihnen zum sprichwörtlichen Fels in der Brandung geworden.
Es war der Ort, an dem Wilhelm seinen Glauben wiedergefunden hatte. Während einer Nacht als Turmbeobachter hatte er, mitten im Krieg, mitten in all der Angst und all dem Schrecken einen friedlichen und allumfassenden Nachthimmel erlebt. Dieses Gefühl der Sicherheit und Freiheit, lies es zu, dass er sich an die Sicherheit seiner Jugend erinnerte und noch einmal eine Geschichte seiner Großmutter durchlebte, die sie ihm in Kindestagen, dort auf diesem Turm erzählt hatte. Er hatte in jener stillen Nacht, mitten im Krieg erkannt, wie wenig des Menschen planen und schaffen wert ist ohne Gott.
Für Anna hatte der Turm ursprünglich eine ganz andere Bedeutung. Es war nicht so sehr das Sprungbrett in ein neues Leben, wie bei Wilhelm. Bei ihr waren es sehr praktische Gründe, die zu der starken Bindung an den Ludwigsburger Aussichtsturm geführt hatten.
Anna war damals noch ein kleines Mädchen. Zu ihrem 10.Geburtstag hatte sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt. Papa brachte Ihr von einer Geschäftsreise eine nigelnagelneue Staffelei für Kinder mit. Sie wollte eine Künstlerin werden, wie ihre Tante in Berlin.
Eines schönen Tages kam sie freudestrahlend aus der Schule nach Hause: „Mutti, ich habe Hausaufgaben bekommen!“
„Darüber freust du dich? Das habe ich ja noch nie erlebt,“ meinte die Mutter die mit beiden Händen tief in einer Schüssel mit Teig steckte. „Ich bin hier gleich fertig, dann kannst du mir ja alles erzählen.“
„Nein, ich muss gleich wieder los! – Ich muss los solange die Sonne so schön scheint!“
„Du kannst jetzt nicht gehen. Erst wird gegessen, dann musst du deine Hausaufgaben machen!“
„Ich habe keinen Hunger und wegen der Hausaufgaben muss ich ja los!“
„Jetzt bin ich aber neugierig. Was sind das denn für Hausaufgaben, die man nicht zuhause erledigt?“
„Wir müssen etwas malen, mit Wasserfarben!“
„Aber dazu musst du doch nicht aus dem Haus gehen!“
„Doch, jeder muss ein Gebäude malen. Die einen das Schloss, andere den Bahnhof und ich, „meinte die kleine Anna stolz „ich male den Aussichtsturm!“
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Mutter ließ die kleine Anna jedoch nicht ohne Essen aus dem Haus. Nachdem Anna hastig das Mittagessen hinuntergeschlungen hatte, suchte sie alles zusammen, was sie für Ihre Aufgabe brauchte. In einen Rucksack packte sie eine Wasserflasche, einen Becher, ihre Pinsel und die Wasserfarben. Den Papierbogen rollte sie zusammen und steckte ihn in die Außentasche.
Freudenstrahlend setzte sie den Rucksack auf, klemmte sich die kleine Staffelei unter den Arm und machte sich auf den Weg.
Sie hatte es nicht weit und nach rund 10 Minuten war sie am Aussichtsturm angekommen. Groß und mächtig stand er vor ihr.
Sie stellte die Staffelei auf und spannte das Papier ein. Nachdem sie alles vorbereitet hatte, stand sie da und wusste nicht wo sie anfangen sollte.
Wie könnte sie nur etwas so Großes und Mächtiges auf ihr Blatt bekommen.
Der Turm war so groß und sie war so klein und sie wollte es doch besonders gut machen.
So stand sie da, und starrte auf das leere Blatt vor ihr. Hilfesuchen sah sie sich um. Gut 50m von ihr entfernt stand ein Mann. Sie hatte ihn erst gar nicht bemerkt, da er sich im Schatten der alten Linde aufhielt. Nun, beim genaueren Hinsehen stellte sie fest, dass der Mann ebenfalls den Turm malen wollte.
„Vielleicht kann er mir ja sagen, wie ich den Turm auf das Bild bekomme“ dachte sie so bei sich, packte ihre Sachen ein und ging auf den Mann zu.
Beim Näherkommen bemerkte sie etwas Ungewöhnliches. Der Mann stand mit geschlossenen Augen vor seiner Leinwand und hatte die Hände gefaltet. Es schien so als ob er beten würde. Anna stellte Ihre Staffelei neben der des Mannes auf und packte wieder ihre Sachen aus.
Anna wollte die Aufmerksamkeit des Mannes und versuchte möglichst viel Krach beim Aufbau ihrer Malutensilien zu machen.
Die Rechnung ging auf. Der Mann öffnete die Augen und blickte verwundert auf die 10-jährige, die da vor ihm stand und ihn mit großen Augen ansah.
„Kannst du gut malen?“ Anna kam gleich zu Sache.
„Ich denke schon. Gott hat mir ein gewisses Talent dafür geschenkt.“
„Gott hat es dir geschenkt. Dann musst du ja richtig gut malen können!“
„Nun ja, ich gebe mein Bestes… Aber sag liebe Künstlerkollegin, was führt dich an diesem sonnigen Tag hier her? Warum spielst du nicht mit deinen Freundinnen?“
„Ich habe eine Hausaufgabe bekommen und soll den Turm malen. Ich weis aber nicht wie ich anfangen soll. Der Turm ist doch so groß …“
„… und du bis noch so klein!?! Vervollständigte der Mann den Satz, „mir geht es oft genau so. Ich weis dann nicht mehr wie es weitergehen soll.“
„Und dann, was machst du dann?“ Anna schaute ihn mit hoffnungsvollem Blick an.
„Nun, dann bitte ich Gott um seinen Rat. Es gibt da einen Satz, der mich durch mein Leben begleitet:
Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
Wenn ich nicht weiterweiß, dann schließe ich meine Augen, falte meine Hände und bete. Ich sage Gott was mich bedrückt und wo es gerade klemmt. Meistens sehe ich danach wieder klarer und weiß wie ich weitermachen kann.“
Jetzt war die kleine Anna natürlich erst recht neugierig geworden. „Und?“ meinte sie mit gespannter Erwartung „hat Gott dir einen Tipp gegeben, was du tun sollst?“
„Ich denke schon, immerhin hat er mir eine kleine Künstlerin geschickt, die einen großen Turm malen soll.
Anna musste lachen. „Ich bin eine Künstlerin? Meinst du wirklich?“
„Auf jeden Fall!
Gott schenkt jeder und jedem ein Talent.
Es zu entdecken und auszubauen, das liegt an uns.
Dabei muss es nicht unbedingt das Malen sein. Manche können singen, oder ein Haus bauen oder gut mit Menschen umgehen.
Alle Menschen können Künstler sein – Sie können Lebenskünstler sein.
Den Weg den Gott für dich vorgesehen hat, wirst du schon selbst entdecken. Vielleicht ist es ja tatsächlich das Malen.
Das wollen wir aber jetzt herausfinden. Komm, ich zeige dir worauf du beim Malen achten solltest …“
So malte die kleine Anna ihr erstes richtiges Bild auf ihrer neuen Staffelei.
Die kleine Anna malte auf einem großen Papierbogen einen riesigen Turm.
So oft sie konnte, packte sie ihre Malsachen ein und marschierte zum Aussichtsturm. Mit der Zeit hatte sie ihn von allen Seiten gemalt und wurden von Mal zu Mal besser. Anfangs hatte der Turm so groß, fast bedrohlich auf Anna gewirkt, doch nun nachdem sie so viel Zeit mit ihm verbracht hatte, war er ihr wie ein guter Freund geworden.
Der Mann, der ihr damals den Weg zum Malen gezeigt hatte, kam nicht wieder. Sie malte alleine, doch immer, wenn sie nicht mehr weiterwusste, schloss sie die Augen, faltetet die Hände und betete. Gott fand immer einen Weg für Anna.
Die Jahre vergingen und es kam der Krieg. Ihre Zeit als Künstlerin mit Pinsel und Staffelei ging zu Ende
Als die ersten Verwundeten in Ludwigsburg eintrafen, war kein Platz mehr für die Malerei. Anna hatte noch ein weiteres Talent von Gott erhalten. Sie wurde Krankenschwester. Sie pflegte und heilte unzählige Verwundete. Sie pflegte und heilte sie an Leib und Seele.
Wilhelm, einer der Soldaten, den sie gepflegt hatte, sollte ihr letztlich selbst ein Segen werden.
Doch bis dahin lag noch ein weiter Weg mit wenig Höhen und vielen Tiefen vor ihr.
Die Worte des Malers, den sie vor so vielen Jahren unter der alten Linde getroffen hatte, trug sie aber stets im Herzen. Immer wenn sie nicht mehr weiterwusste, schloss sie hier die Augen, faltete die Hände und betete zu Gott.
und die Worte des Malers gaben ihr halt. Sie gaben ihr halt und können auch für uns, hier und heute zum Halt werden:
Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
Amen